Kolumnen April 2015 - April 2017
    Balduin Brachlands Hausapotheke
    Die Luftschiffer
    Laufberichte
    Home

    Balduin Brachlands Hausapotheke (2010) - Auszüge


    Urlaub



    Zwischen die beiden tatsächlich einzigartigen Ereignisse in einem jeden Menschenleben, die für einen meist selbst völlig überraschende Geburt und den oft hinterhältig und zur Unzeit auftauchenden Tod, hat der alte Herr mit dem großen weißen Rauschebart, also Darwin, eine endlose Reihe von Routinen und Wiederholungen gesetzt. Und wie die Vögel im Herbst und den Jungrevolutionär zur Walpurgisnacht, so überfällt den Großstädter, sobald die Tage länger werden, als man gutwillig wach zu bleiben vermag, die Pollenallergiker nach und nach aus dem Straßenbild verschwinden und die Sonnenmilchaktionäre hysterisch lachend durch die Fußgängerzonen hüpfen, eine immer stärkere innere Unruhe, und seine Gene teilen ihm unmissverständlich mit: nun naht die Zeit des großen Abschieds. Er kündigt seine Arbeitsstelle und seine Wohnung, holt die Leiche seiner Ehefrau aus der Kühltruhe und vergräbt sie im Wald, packt seine Siebensachen in sieben große Koffer, verschenkt das Übrige, veranstaltet drei sausende und brausende Lebewohlfeiern: eine für die Kollegen, eine für die wirklichen Freunde und eine für den Rest. Hände werden geschüttelt, Adressen aufgeschrieben, Taschentücher verstohlen gezückt, und dann kann sie wie in jedem Jahr endlich beginnen: die wunderschöne und unvergessliche Urlaubsreise. Spätestens an dieser Stelle scheiden sich die Schafe von den Böcken bzw. die Mädchen von den Memmen und die individuellen Unterschiede in den natürlichen Anlagen, was Abenteuerlust, Menschenfeindlichkeit und Sparguthaben anlangt, treiben zu den unterschiedlichsten Reisezielen, die sich allein darin ähneln, dass sie möglichst weit weg von zu Hause liegen. Der einfache Proletarier fährt dahin, wo möglichst viele andere Proletarier und möglichst wenige fremde Menschen oder gar Ausländer sind, der Kulturbürger schleicht, wie sonst auch, durch schummrige Museen oder sitzt in stickigen Opernhäusern, der Besitzproletarier fährt mit sämtlichem Hab und Gut, inklusive Fernseher, Frau und Hund auf seinen Dauercampingplatz. Der sozialdemokratische Funktionär fährt nach Malle, um Kontakte mit der Arbeiterklasse zu knüpfen, wird aber auch dort von allen ausgelacht oder verprügelt. Der Ostseestädter fährt ans Mittelmeer, der Bayer in die Dolomiten, der Berliner nach New York oder nach Pasewalk, je nachdem, ob es ihm mehr auf Autoabgase oder grundständige Provinzialität ankommt. So sucht sich jeder einen Ort, an dem es wirklich ganz und gar anders ist und wo einen nichts, aber auch gar nichts an den Alltag erinnert: die Plackerei in finsteren Bergwerksschächten, das nervenaufreibende Bleistiftanspitzen im Büro, das Quälen schulpflichtiger Kinder, das versehentliche Töten von Patienten oder die routinierte Steuerhinterziehung von Milliardenbeträgen. Ethnologisch interessierte Friedrichshainer beispielsweise unternehmen Expeditionen in den Dschungel Lichtenbergs, um mit aller gebotenen Vorsicht die letzten freilebenden, noch von jeglicher Zivilisation unberührten Kurzhaarigen in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten, während zur gleichen Zeit Stuttgarter Bohemiens die verwaisten Friedrichshainer Straßen und Kneipen bevölkern und sich mit ihren Handys wechselseitig als authentische Berliner "Szene" fotografieren. Brave Hausfrauen jagen Bären am Nordpolarmeer oder retten Robben oder auch mal beides, Atomphysiker fahren zum esoterischen Töpfern in die Toskana und heisere Fußballfans verbringen den Sommer bei einem Gospelchor in den Südstaaten. Ganz Gewiefte bleiben gleich zu Hause und verreisen überhaupt nur in Gedanken. Das hat den Vorteil, dass man sich nicht nur die exotischsten Orte aussuchen kann (vom Waikiki-Beach bis hin zu Entenhausen oder Deep Space Nine), man benötigt auch keinerlei Impfungen, spart sich die Wartezeit am Flughafen und kann zwischen dem Holodeck-Golf mit Captain Janeway und dem Yeti-Spotting auf dem Nanga Parbat mal eben zu Hause eine Pizza in die Mikrowelle schieben. Überhaupt ist der wesentlichste Bestandteil einer geglückten Reise auch die wertvollste menschliche Eigenschaft: nämlich die Fähigkeit, sich Illusionen hinzugeben: dass das Lächeln der Kellnerin, die einem auf Ibiza die Drinks serviert, irgendetwas zu bedeuten hätte, dass uns der Urlaub vom staubigen Tagewerk erlöse und es in Turkmenistan, Phantasien oder auf Lummerland irgendwie anders wäre als zu Hause oder dass man als überlebender Heimkehrer aus dem Sommerschlussverkauf, dem Krieg oder eben dem Urlaub in aller Ruhe da weitermachen könne, wo man aufgehört hat. Am Ende schließlich waren wir überall: mit Neckermann auf dem Mond, mit Wallenstein in Böhmen und mit der sechsten Armee in Stalingrad, haben Fotos von Paris, Hogwarts und Mordor, Andenken aus Canterville, der Smaragdenstadt und Bielefeld und können im nächsten Jahr - zu unserem letzten Urlaub - mit Baedeker und Sonnencreme auch ganz beruhigt zur Hölle fahren.


    Balduin Brachlands Hausapotheke


    nach oben
     
    karamasow(at)gmx(Punkt)net