Kolumnen April 2015 - April 2017
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Balduin Brachlands Hausapotheke
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Balduin Brachlands Hausapotheke (2010) - Auszüge
Das Haus. Teil Zwei
Eines schönen Tages, der Zauberer war gerade in Westfalen unterwegs, er hatte beim Frühstück gemurmelt, er müsse dort in irgendeiner Religionsstreitigkeit vermitteln, aber wahrscheinlich habe ich nur wieder nicht richtig zugehört, nahm ich die Wühlmaus aus der Küchenschublade und stieg in den Kohlenkeller hinab. Kohlen gibt es dort zwar keine mehr, seit wir vor Jahren bei der Ausschachtung eines neuen Brunnens in zirka zweihundert Metern Tiefe auf eine eigene Erdölquelle gestoßen sind, dafür kilometerlange massive Eichenholzregale, vollgestellt mit verrosteten Mähdreschern, Braukesseln, Flugzeugmotoren sowie mannshohen Einweckgläsern, gefüllt mit Südfrüchten, Kartoffeln und in Spiritus eingelegten Haifischen. Ich stelle mir zumindest vor, dass es Haifische sind oder wenigstens seltsam geformte Kürbisse, und wahrscheinlich sind sie auch eher in Salzlake oder Rübensirup eingelegt, so genau kann man das wegen der Finsternis sowieso nicht sehen. Die Wühlmaus aus der Küchenschublade, die ich mitgenommen habe, leuchtet zwar im Dunkeln, aber nun nicht gerade wie, sagen wir eine Taschenlampe. Sie gibt eher einen zarten Schimmer von sich und auch nur, wenn man zur Unterstützung ihrer Helligkeit mindestens eine größere Fackel mit sich führt. Dafür quiekt sie von Zeit zu Zeit recht munter und plappert lustige Geschichten vor sich hin. So betrachtet, könnte sie gerade in diesem düsteren und unheimlichen Keller eine reizende und aufmunternde Begleitung sein. Manchmal wünschte ich nur, ich könnte ihre Sprache verstehen, die, soviel glaube ich zu wissen, ein seltener Eingeborenendialekt aus dem tasmanischen Dschungel ist. Keine Ahnung, wo sie den aufgeschnappt hat, wo sie doch von irisch-russischen Einwanderern auf Spitzbergen abstammt und in der Schublade auf einem kongolesischen Reisepass nächtigt. Möglicherweise aber ist der auch nur gefälscht und die Maus illegal hier.
Ich meinesteils spreche lediglich Mandarin, Sanskrit und Latein wirklich fehlerfrei, das heißt: wenn es mir jemand übersetzt, und zur Not auch noch Hunsrücker Platt, aber da schüttelt die Maus nur ihr leuchtendes Köpfchen und plaudert weiter ihr unzivilisiertes Kauderwelsch.
Die Kellergänge ziehen sich kilometerweit kreuz und quer dahin wie ein riesiges Labyrinth, und ohne mein rotes Wollknäuel, das ich während meines Weges langsam abspule, würde ich wohl nie wieder zurückfinden. Teilweise führen sie weit unter die Erde, verengen sich zu winzigen Schächten, die man nur auf dem Bauch rutschend passieren kann, um sich dann plötzlich zu riesigen Tropfsteinhöhlen und unterirdischen Hallen zu erweitern, deren Ausmaß im flackernden Fackelschein gar nicht mehr abzusehen ist. Manchmal hört man von oben Geräusche, wie das Stampfen marschierender Kolonnen bei der Siegesparade auf dem Roten Platz oder das Schlagen der Turmuhr von Big Ben, auch das geräuschvolle Treiben arabischer Markthändler habe ich bei meinen ausgedehnten Wanderungen unter der Erde schon vernommen oder die Stationsansagen der New Yorker U-Bahn. Ich staune jedesmal, dass man mit so einem unscheinbaren Wollknäuel so weit kommt, dabei ist es mir noch nicht einmal gelungen, es jemals vollständig abzuwickeln. Meist bekomme ich vorher Hunger, und obwohl ich zuweilen aus einem der Einweckgläser nasche, freue ich mich nach dem fruchtigen und süßen Geschmack der Haifische, die ein bisschen wie Erdbeeren schmecken, doch wieder auf ein zünftiges Spiegelei daheim in unserer Küche, wenn der Zauberer von seinen Erfolgen bei der friedlichen Übergabe Neapels an den fränkischen Kaiser berichtet, während ich ihm wieder nicht zuhören kann, weil in diesem Augenblick die Schlangenfrau in einem atemberaubenden Negligé die große Freitreppe in der Eingangshalle herunterschreitet, vielmehr hinabschwebt. Möglicherweise, ich will das gerne zugeben, reicht unser Keller auch nur bis unter das Gemeindehaus auf der anderen Straßenseite, in dem jeden Abend Volkshochschulkurse und Diavorträge zu kulturell interessanten Reisezielen mit Toneinspielungen stattfinden. Wer weiß.
Zum Spiegelei aus den Dinosauriereiern, die ich in einer der hinteren Ecken des Kellers gefunden habe, gesellen sich Bratkartoffeln aus der ersten Ernte des Kolumbus, von denen wir mehrere Einweckgläser besitzen, soviel behauptet wenigstens, wie mir der Zauberer in einer gutgelaunten Minute anvertraute, die lateinische Aufschrift. Dazu gibt es Krautrouladen aus Mammutfleisch, gefüllt mit Paradiesvogelfilet und umwickelt mit den zartgoldenen Blättern der Weltesche. Zum Nachtisch, wie jeden Abend, Haifischkompott, davon haben wir reichlich, und es schmeckt auch jeden Abend nach einer anderen süßen oder bitteren Frucht, nur eben nie nach Haifisch. Ein wenig habe ich den Zauberer im Verdacht, er denke sich die Namen der Speisen, die er so vorzüglich zuzubereiten versteht, nur aus. Aber wenn man wie er über fünf goldene Michelin-Sterne verfügt, die er stolz an seine buntgeblümte Kittelschürze geheftet hat, ist man wohl über solchen Verdacht erhaben, weshalb ich mich auch gar nicht traue, ihn danach zu fragen. Ebensowenig wie nach dem mit schwarzem Filzstift auf weiße Pappe gemalten Schild "Mittelpunkt der Erde", das in unserem Keller aufgehängt ist, das man aber seltsamerweise schon nach wenigen Schritten erreicht hat. Könnte sein, dass er mich da ein bisschen an der Nase herumführt und meine Gutgläubigkeit ausnutzt. Aber ich verzeihe ihm das, schließlich ist Zaubern eine aufopferungsvolle und anstrengende Tätigkeit, obwohl er dabei nie jemanden zusehen lässt, und zu guter Letzt opfert er seine gesamte Freizeit, die ihm neben dieser harten Arbeit noch verbleibt, dem Weltfrieden und führt zwischen Marathon und Waterloo, vom Teutoburger Wald bis nach Neu-England jede noch so kleine Streitigkeit der Völker zu einem guten Ende, also zu einem gemeinsamen Besäufnis mit gegrillten Wildschweinen, Kartenspiel und Blaskapellen wie auf jedem ordnungsgemäßen ostwestfälischen Schützenfest.
Dieser meiner Wertschätzung für seinen aufreibenden Berufsalltag verdankt es der Zauberer auch, dass ich nach jedem unserer Abendessen freiwillig abwasche und die Küche aufräume, auch wenn das bisweilen mehrere Tage dauert, denn meistens bringt er noch einige Hundertschaften Hunnen, Vandalen und mongolische Reiter mit, die ihre Pferde in die Ecken stellen, Unmengen unseres feinen Meißner Porzellans im Übermut zerschlagen und mit ihren Dreckstiefeln die gesamte Auslegeware ruinieren.
Ich selbst bin ja sehr ordentlich, fast ein bisschen zwanghaft. Die Stifte auf meinem Schreibtisch müssen stets akkurat parallel liegen, und eine Fluse auf meinem Perserteppich treibt mich in den Wahnsinn. Ausnahmen mache ich nur um des lieben Friedens willen für die alltäglichen Feste meiner Mitbewohner wie das wöchentliche Schlammcatchen, das aus unerfindlichen Gründen unbedingt in meinem Schlafzimmer stattfinden muss, oder die Pferderennen auf unserem Flur, weil sich der Zauberer immer so sehr darüber erheitert. Wenn es mir reicht mit den Volksfesten und Gelagen, steige ich auf den Dachboden und sehe mir mit dem blauen Elefanten alberne Trickfilme an oder nehme die Leuchtmaus und wandere, am Erdmittelpunkt vorbei, durch die endlosen Katakomben unter fremden Kontinenten umher.
Manchmal auch besuche ich eines der zahllosen Zimmer im dreiundzwanzigsten Stockwerk, das aus mir unbekannten Gründen das bei weitem ausgedehnteste ist. Gerne schaue ich bei dem französischen Revolutionsrat vorbei, in dem sich die zweihundert Anwesenden in phantastischen roten und blauen Uniformen und mit seltsamen, teils albernen Helmen, Hüten und Mützen andauernd gegenseitig des Verrates an der Revolution, der Menschheit und erst gestern festgelegten unverbrüchlichen Idealen bezichtigen und sich fortlaufend wechselseitig zum Tode verurteilen. Auch ich selbst wurde, obwohl ich niemals komische Mützen trage, schon mehrfach zum Köpfen, Hängen, Erschießen, Vierteilen oder Totkitzeln vorgesehen, konnte aber zum Glück jedes Mal rechtzeitig entwischen.
Gleich nebenan ist eine Bar, die sich ZehnVorne nennt, in der es immer hoch her geht wie auf einem interstellaren Herrentagsausflug: Wesen mit leuchtend roten Hautschuppen und ultramarinblauen, sich hin und her schlängelnden, zuweilen zischenden Haaren, kleinwüchsige, gelbschwarz karierte Zebras mit Schildkrötenpanzern, maulende Rieseneidechsen mit Fledermausflügeln und orangenen Strickwesten, Löwengesichtige mit Krokodilsnasen und weißen Plüschohren, Menschenähnliche mit stachligen Rattenschwänzen, Tentakelaugen, Pranken, Krallen und Hörnern an den unerwartetsten Stellen. Diese ganze Meschpoke kippt ein Reagenzglas mit schwefligen Schnäpsen und qualmenden, stinkenden Likören nach dem anderen, singt, so vermute ich wenigstens, unanständige Lieder, kreischt und zischt und faucht durcheinander, dass man sein eigenes Wort kaum verstehen kann. Nicht dass ich dort mit irgendjemandem reden würde, obwohl die Spezies mit dem Pfauenschwanz und den seitlich am Kopf hängenden Laternenfüßen einen, dem Sanskrit ähnlichen sirianischen Dialekt zu sprechen scheint. Ich könnte mich natürlich auch mit den Menschen unterhalten, die die Tische abräumen und die vielfarbigen Missgeschicke der Gäste aufwischen müssen. Aber lieber nippe ich an meinem extraterrestrischen Rachenputzer und schaue durch die große Panoramascheibe in den sternblinkenden Weltraum, der, je mehr ich trinke, immer funkelnder und wirbelnder und wunderbarer wird: die Sonnen explodieren im Minutentakt, riesige Raumschiffe liefern sich spannende Schlachten, tomahawkschwingende Indianer reiten unter markerschütterndem Kriegsgeschrei auf lindgrünen Rieseneichhörnchen vorbei ... Ja, also: wenn die Indianer kommen, weiß ich, dass es für heute Zeit ist zu gehen.
Dann wanke ich einfach eine Tür weiter, hinter der sich eine duftende Wiese auftut, die in einem unveränderlichen malerischen Abendsonnenschein liegt. Hinter der Wiese erhebt sich eine Kette schneebedeckter Berggipfel und die Luft ist erfüllt vom leisen Plätschern des sich durch die Wiese schlängelnden Bächleins und dem fernen Geklingel der Alpenkuhglocken. In romantisch gestimmten Stunden treffe ich mich hier von Zeit zu Zeit mit der Schlangenfrau, die gar nicht so ein kaltblütiges, blutsaugerisches Monster ist, wie sie immer tut, sondern auch ausgesprochen nett sein kann. In aller Unschuld sitzen wir dann beisammen, essen stark duftenden Ziegenkäse, trinken Rotwein und schauen in den niemals endenden Sonnenuntergang. Vielleicht, wenn diese Sonne jemals untergehen würde, vielleicht würde dann ja etwas mit und zwischen uns geschehen, was diese fortwährende und langweilige Unschuld übersteigen, durchbrechen, hinwegfegen würde. In schwachen Stunden male ich mir das in den farbenfrohsten und berauschendsten Bildern aus. Auch in starken Stunden manchmal, eigentlich stets und ständig. Aber diese verfluchte Sonne geht und geht nicht unter. Und so kommt es, dass ich, vielleicht bis auf den Zauberer, obwohl ich mir da ganz und gar nicht sicher bin, wahrscheinlich als einziger Mensch auf der Erde noch nie der Schlangenfrau zum Opfer gefallen bin.
Balduin Brachlands Hausapotheke
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