Kolumnen April 2015 - April 2017
    Balduin Brachlands Hausapotheke
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    Balduin Brachlands Hausapotheke (2010) - Auszüge


    Einer



    Ich kenne einen, der ist außerordentlich schlau. Er weiß die jahresdurchschnittliche Regenmenge des Amazonasbeckens, die Vor - und Zunamen sämtlicher Liebhaberinnen Jean-Paul Sartres und die Standorte aller deutschen Filialen der Sparkasse - und zusätzlich noch diejenigen der Volks- und Raiffeisenbanken - sowie hundert andere lexikalische Namen, Daten und Fakten auswendig herzusagen und tut dies auch ausführlich und mit Vorliebe ungefragt bei Geburtstagen, Hochzeitsfeiern und Beerdigungen, zu denen er längst nicht mehr eingeladen wird, aber mit traumwandlerischer Sicherheit trotzdem regelmäßig erscheint. Wir schätzen ihn aber dennoch, aufgrund seines angenehmen Äußeren, seiner warmherzigen Art und seines, bis auf die wahrscheinlich von ihm selbst nicht zu kontrollierenden Ausbrüche seines enzyklopädischen Wissens, überaus höflichen und korrekten Auftretens. Das eine oder andere Mal hege aber auch ich Zweifel an seinen Fähigkeiten, der ich mir kaum etwas länger als fünf Minuten merken kann und des Öfteren in einem Laden stehe, ohne die geringste Ahnung, was ich eigentlich kaufen wollte, und selbst den Zettel, auf den ich mir alles zu Erledigende vorsorglich notiert habe, regelmäßig vergesse oder auch bei vielen Gelegenheiten Namen und zugehörige Gesichter in meinem Gedächtnis partout nicht mehr aufzufinden vermag, bis mein Gegenüber, dem diese Schwäche bekannt ist, mir zu Hilfe eilt: "Ich bin es, Claudia, deine Frau, wir sind seit zehn Jahren verheiratet und haben fünf gemeinsame Kinder, deren Vornamen deinetwegen alle mit A anfangen mussten: Anton, Antonia, Antonino, Ansgar und Anfred.", selbst mir, sage ich, kommen bisweilen Zweifel unter an dem Wissen dieses einen, dessen Name mir natürlich gerade nicht einfällt. Nicht nur, dass die durchschnittliche Regenmenge im gesamten Amazonasbecken jährlich nur 0,573 Liter betragen soll, kommt mir spanisch vor, auch der Umstand, dass gleich zwei der Liebhaberinnen Jean-Paul Sartres den Vornamen Karl getragen haben sollen, erscheint mir zumindest fragwürdig. Doch als er letzten Montag, bei unserem wöchentlichen Pokerabend, wieder einmal hinausposaunte, es gebe außerhalb Berlins ja lediglich drei Sparkassenfilialen, nämlich in Bottrop, Castrop-Rauxel und Iserlohn, da erlaubte ich mir doch einmal, gerade als er anfing zu erklären, Shakespeare sei nach neuesten Erkenntnissen eigentlich eine verkleidete Frau aus Buxtehude gewesen, ihn zur Rede zu stellen. Ich sagte ihm unter dem beifälligen Nicken aller anderen Anwesenden auf den Kopf zu, sein so immenses Wissen, mit welchem er seit Jahren alle Welt beeindruckt und angeblich mehrere hohe Auszeichnungen, Doktortitel und Quizsendungen gewonnen habe, beruhe zumindest zu einem größeren Teil auf unbewiesenen Thesen, ausgedachten Zahlen und erfundenen Fakten. Er, dessen Name, wie ich mich eben zu erinnern glaube, Anselm ist, gab ohne Widerrede alles von mir Gesagte zu, wandte aber spitzfindig ein, auch unser vermeintlich besseres Wissen, welches seines als falsches bloßstellen solle, sei ganz und gar unbegründet, haltlos und letzten Endes nur erdacht. Woher wüssten wir denn, dass jemals Menschen den Mond betreten hätten, woran im Übrigen nach letzten Umfragen 20% aller Amerikaner bis heute nicht glauben? Woher, dass die Welt nicht mit allen Erzählungen, Fotos, Filmaufnahmen, Überlieferungen mit dem Zeitpunkt unserer Geburt erst angefangen habe zu existieren? Woher, dass wir nicht irgendwann von Außerirdischen hinterrücks betäubt, entführt, untersucht und mit für uns unbekannten Empfängern ausgestattet wurden, die unsere Gedanken und Handlungen nach verborgenen Plänen steuern? Nun, es sei zwar strenggenommen nicht unmöglich, aber es widerspreche all unserer sonstigen Erfahrung. Aber die Erfahrung lehre ja beispielsweise auch, dass immer nur die anderen sterben. Und jeder von uns habe im Halbschlaf oder Alkoholrausch schon Dinge erlebt und gesehen, die er bei wachem Bewusstsein niemals als reale Erfahrung akzeptieren würde. Nun gut, er sei bereit zuzugestehen, dass es möglicherweise auch noch eine Sparkassenfiliale in Soest geben könne, er persönlich glaube dies zwar nicht, aber es sei immerhin nicht gänzlich auszuschließen. Ich wusste es! Am darauffolgenden Dienstag, während unseres wöchentlichen Rouletteabends, warf ich zwischen zwei Einsätzen in die Runde, ich hätte gehört, dass man Menschen durch in bestimmten Frequenzmustern ausgestrahlte Töne gezielt beeinflussen könne und dass derzeit eine großflächige, natürlich streng geheime Versuchsreihe mit Hilfe eines Berliner Radiosenders stattfinde, in welcher die CIA versuche, die Hörer in tumbe, lethargische Wesen zu verwandeln, die stoisch ihren Dienst versehen, selbst die alleridiotischsten Vorschriften strengstens befolgen und gegen von außen vorgetragene Kritik absolut immun sind. Dem Vernehmen nach soll dieser Sender besonders bei städtischen Verwaltungen, Bahnbediensteten und Postbeamten sehr beliebt sein. Mein neuer Freund, der, glaube ich, doch eher Alwin hieß, ergänzte, die CIA selbst sei seiner Ansicht nach von Aromatherapeuten, Katholiken und Sportfunktionären unterwandert, die mittels Bachblüten, Antiraucherkampagnen und Fußball versuchten, mittelfristig die Weltherrschaft an sich zu reißen. Da unser gesamtes Weltbild auf der Annahme unüberprüfbarer Fakten beruhe, sei diese Meinung auch nicht wesentlich unvernünftiger als der weit verbreitete Glaube an Urknall, Brigitte-Diäten und den Wetterbericht. Am Mittwoch musste unser wöchentlicher Skatabend leider ausfallen, weil außer mir und Albert niemand mehr erschien.Wir trösteten uns dann damit, uns gegenseitig neues Wissen vorzutragen, das wir spontan erzeugten. Hätten Sie gewusst, dass Gagarin der Sohn eines Zimmermannes war? Oder dass das Endspiel 1954 in Bern (zur Erinnerung: der Außenseiter gewinnt nach einem 0:2 Rückstand am Ende völlig überraschend mit 3:2) auf einen Film von 1942 zurückgeht, in dem genau dasselbe passierte; im übrigen auf Vorschlag des damaligen Reichstrainers Sepp Herberger? Ich sagte, wenn man sich heutzutage nicht der äußerst langweiligen Passion hingeben wolle, gar nichts mehr zu glauben, müsse man sich eben von allem rechthaberischen Zweifel befreien und einfach alles glauben, inklusive tödlicher Strahlen aus dem Weltraum, der historischen Überlegenheit des Kapitalismus und der Unfehlbarkeit des Papstes. Meinethalben auch an Homöopathie, Elektrosmog und das Bundeskartellamt. Gestern nun, zu unserem wöchentlichen Schachabend waren unerwartet viele Menschen in weißen Kitteln und dunklen Anzügen gekommen, die sehr unkonzentriert und unglaublich schlecht spielten, verkündete Achmed nach seinem zehnten Matt in Folge, er habe inzwischen herausgefunden, dass zum einen die Sparkassen eine Tarnorganisation seien, die es sich zur Aufgabe gemacht habe, die Weltverschwörung der unterwanderten CIA im Verein mit den friedlichen und wohlmeinenden Außerirdischen von Sirius IX zu bekämpfen und dass zum anderen sich die geheime Weltzentrale der CIA in einem ausgedehnten Bunkersystem unter Bielefeld befinde. Wie auf Kommando standen die Herren auf und erklärten, es bestehe kein Grund zur Sorge, aber sie müssten uns jetzt mitnehmen, es sei zu unserer eigenen Sicherheit. Ja, sie hätten auch schon von dieser Theorie gehört, aber das sei nur eine schlecht erfundene Legende, was man ja schon daran sehen könne, das darin Bielefeld vorkomme. Denn Bielefeld, so sagten sie, und das wisse im Übrigen jedes Kind, Bielefeld gibt es doch gar nicht.


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